Small is beautiful

Zur Poetik des Kleinen in Dominik Steigers frühen Texten

Mechthild Rausch

Fragt man sich, was Dominik Steigers bildnerische und literarische Arbeiten am deutlichsten kennzeichnet, dann kommt man schnell auf das Merkmal der Kleinheit. Kleinheit nicht als Belanglosigkeit oder Minderwertigkeit, sondern als künstlerisches Prinzip, erkennbar an kleinen Formen, inhaltlichem Understatement, kindlicher Attitüde und anderen Eigenschaften, von denen noch zu reden sein wird. Auf der Suche nach wissenschaftlichem Beistand stieß ich auf das Buch Mikrologien von Marianne Schuller und Gunnar Schmidt. Die darin untersuchten Erscheinungsformen des Kleinen in Literatur und Philosophie bilden ein faszinierendes Spektrum divergenter und doch irgendwie zusammengehöriger Phänomene (Schuller und Schmidt 2003). Dominik Steigers Dichtungen kommen in dieser Untersuchung leider nicht vor. Ein Grund mehr, mich mit seinem Streben nach Kleinheit zu beschäftigen, wobei ich mich auf die frühen literarischen Arbeiten beschränken werde.

In den Mikrologien von Schuller und Schmidt nimmt Franz Kafka einen besonderen Platz ein. Im Tagebuch von 1911 schreibt Kafka, ausgehend vom jiddischen Theater, ausführlich über den Begriff der „kleinen Literatur“. Eigentlich spricht er von „kleinen Literaturen“, denn es geht ihm um die literarische Produktion ethnischer Minderheiten. Für diese listet er eine ganze Reihe von Merkmalen auf, z. B. „Lebhaftigkeit“, „Prinzipienlosigkeit“, „Zusammenhang mit der Politik“, „kleine Themen“. Über Letztere schreibt er:

Allgemein findet sich die Freude an der literarischen Behandlung kleiner Themen, die nur so groß sein dürfen, daß eine kleine Begeisterung sich an ihnen verbrauchen kann. […] Was innerhalb großer Literaturen unten sich abspielt und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes bildet, geschieht hier im vollen Licht. (Kafka 1973, 131 f.)

Populär wurde der Begriff der „kleinen Literatur“ durch die Kafka-Analysen von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In ihrem vielzitierten Buch Kafka – pour une littérature mineure deuten sie den Begriff zu Recht als die geheime Matrix von Kafkas eigenem Schreiben. Auch Deleuze und Guattari nennen eine Reihe von Merkmalen der „kleinen Literatur“, von denen ich besonders das erste, die „Deterritorialisierung der Sprache“, für aufschlussreich halte. Eine „deterritorialisierte“, man könnte auch sagen: entwurzelte Sprache ist für Kafka das Jiddische. Für Deleuze/Guattari gilt diese Kennzeichnung aber auch für das von Kafka benutzte Prager Deutsch. Letzteres wurde von der deutschen und jüdischen Minderheit gesprochen, innerhalb einer ethnischen Enklave, in der es verblasste und versteinerte. Der Gebrauch dieser abgelebten, ihm nicht wirklich vertrauten Sprache sei eine Voraussetzung für Kafkas literarische Meisterschaft gewesen, sagen Deleuze/ Guattari und knüpfen hieran die emphatische Forderung: „Wer das Unglück hat, in einem Land mit großer Literatur geboren zu sein, muß in seiner Sprache schreiben wie ein tschechischer Jude im Deutschen oder ein Usbeke im Russischen: schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt.“ (Deleuze und Guattari 1976, 27) Oder pfeifen wie Josefine, die Sängerin aus dem Volk der Mäuse, möchte man hinzufügen. In der Schilderung von Josefines fragwürdiger Kunst schuf Kafka zugleich eine Parabel über sein eigenes Schreiben.

Die eigene Sprache wie ein Fremder zu gebrauchen, war ein Leitprinzip der literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, von Futurismus, Dadaismus und experimenteller Literatur. Insofern passt auch auf viele ihrer Hervorbringungen der Begriff der „kleinen Literatur“. Fremdlinge in der eigenen Sprache sind übrigens auch die dichtenden Psychotiker, letztlich auch schreibende Dilettanten. Beide Spezies wurden von den literarischen Avantgarden als ihresgleichen anerkannt. Dominik Steiger beteiligte sich an diesem Projekt mit einer Anthologie naiver Literatur, die 1970 unter dem Titel Vierundachtzig Österreichische Erzähler (Steiger 1970) erschien. Mit der „Kleinheit der Themen“ und der „Entfremdung von der eigenen Sprache“ bzw. „Verfremdung der eigenen Sprache“ besitzen wir zwei Kriterien literarischer Kleinheit, die sich bestens zum Verständnis von Dominik Steigers Prosa eignen. Das Erste bedarf allerdings der Ergänzung: es muss auch die Verkleinerung g r o ß e r Themen umfassen, wie Steiger sie in der verbesserten grossen sozialistischen Oktoberrevolution vorführt. Einer Verkleinerungskur unterwirft er oftmals auch das Personal seiner Erzählungen, indem er es verkindlicht. Das Gleiche macht er mit dem Erzähler, dem er vielfach ein kindliches Verhalten und eine kindliche Sprache andichtet. In die Rubrik „kleine Themen“ gehört schließlich auch der Umgang mit Tieren. Er läuft, bei Steiger wie bei Kafka, gleichermaßen auf die Vermenschlichung von Tieren und die Vertierung von Menschen hinaus.

Durch die verkleinernde Vertierung und Verkindlichung der Menschen entsteht bei beiden Autoren ein komischer Effekt. „Das Kind wirkt auf uns nur dann komisch, wenn es sich wie ein Erwachsener gebärdet“, schreibt Sigmund Freud in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Freud 1958, 182). Umgekehrt wirkt der Erwachsene komisch, der sich wie ein Kind gebärdet. Von diesem Kunstgriff machte Dominik Steiger reichlich Gebrauch, auch in seinen frühen Texten. Der kleinen Form schenken Deleuze/Guattari keine besondere Beachtung, vermutlich deshalb, weil zu einer „kleinen Literatur“ mit „kleinen Inhalten“ zwangsläufig die kleine Form gehört. Jeder weiß, dass Kafka ein Meister von Kurz- und Kürzestprosa war. Die Romane hinterließ er unfertig, erst die Nachwelt vollendete sie. In der Literaturgeschichte findet sich die kleine Form einerseits auf dem Gipfel der Sprachkunst, in Gestalt des Gedichts, andererseits in deren Niederungen, in der Gestalt von Witz, Anekdote, Mythe, Märchen, Kasus etc., den so genannten „einfachen Formen“ nach Jolles (Jolles 1956). Eine eigene kleine Form brachte das Zeitungswesen hervor. Die Geschichten „unter dem Strich“, dem Abgrenzungsbalken des Feuilletons, führte Robert Walser zur Vollendung, einer von Steigers Favoriten. Die moderne Literatur, besonders die experimentelle, schuf ebenfalls Spielarten der kleinen Form. Sie entstanden aus der Poetik des Experiments und der Gegnerschaft zu traditionellen Formen. Aus der Zertrümmerung herkömmlicher Strukturen, aus alogisch und asyntaktisch gefügten Kompositionen, entstanden kleinteilige Gebilde. Weil diese sich gegen jede Gattungszuordnung sperrten, nannte man sie Texte. Die Gegnerschaft zu traditionellen Formen verstanden manche Autoren als politische Haltung bzw. politische Komponente ihrer Arbeiten. Ferdinand Schmatz sieht diese Komponente auch in Dominik Steigers Texten verwirklicht, wobei er sich auf Kafkas Äußerungen über die „kleine Literatur“ bezieht (Schmatz 1993, o. S.). Im bloßen „Widerstand gegen die ‚mainstream‘ Literatur“ kann ich allerdings noch keinen politischen Protest erkennen. Die politische Dimension literarischer Experimente entstand meines Erachtens erst im Zusammenspiel mit den zeitgleichen politischen Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Die Frage, ob und in welcher Weise die Schrecken der Hitlerdiktatur und die experimentelle Literatur zusammenhängen, bedürfte einer gründlichen Untersuchung.

Dominik Steiger trat zuerst 1966 mit einer Kunstaktion an die Öffentlichkeit. Es war bereits eine Übung in Kleinheit. Im bildkompendium wiener aktionismus von Peter Weibel und Valie Export heißt es dazu: „Steiger ging mit Kinderkleidern und Kinderspielzeug in einen öffentlichen Park, spielte mit den Kindern, trieb allerlei Schabernack etc.“ (Weibel und Export 1970, 284) Der Schriftsteller Oswald Wiener filmte die Aktion. Zur Erklärung: Steiger war damals gerade in den Umkreis der „Wiener Gruppe“ eingetreten und beteiligte sich mehrfach an deren Unternehmungen. Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener huldigten gelegentlich ebenfalls einer ironisch pointierten Kindlichkeit – besonders hemmungslos in der 1964 aufgeführten kinderoper. Sie folgten darin dem Vorbild der Dadaisten, die ihre Richtung bekanntlich nach einem kindlichen Lallwort benannten. Im Unterschied zu den Autoren der „Wiener Gruppe“ behielt Steiger die Kinderrolle im Repertoire und spielte sie auch in den folgenden Jahren vielfach aus. So beim „Zockfestival“ 1967, einer Gemeinschaftsveranstaltung von „Wiener Gruppe“ und „Wiener Aktionisten“. Steiger trat unter dem Namen „Fnufi“ in kurzen Hosen auf die Bühne und improvisierte eine Rede mit dem Titel „Schmauch“. Soweit ich mich erinnere, gingen Steigers Worte im allgemeinen Trubel unter. Noch Jahre später, bei einer der Aufführungen der „Selten gehörten Musik“, trat er in einer Kinderrolle auf. Während seine Freunde musizierten, pflanzte er sich am Rande des Podiums mit einer Standarte aus Aluminiumfolie auf und verharrte dort tatenlos als eine Art Herold. Was wollte er mit diesem Auftritt ausdrücken? Wollte er sich vom musikalischen Krach seiner Freunde distanzieren, sie vielleicht sogar verspotten? Ich glaube, er balancierte auf des Messers Schneide zwischen Bewunderung und Spott, zwischen Ernst und Scherz – eine Haltung, die sich auch in andern Arbeiten zeigte. Zum Beispiel in seiner (nach dem im Eigenverlag erschienenen Band WENDE aus dem Jahr 1961) zweiten Buchveröffentlichung, einem dünnen Heft mit dem von Goethe geborgten Titel im atemholen sind zweierlei gnaden (1965). Als Erscheinungsort firmiert der „Verlag für fremdsprachige Literatur in Peking“ – natürlich eine Mystifikation, die an die damals grassierende Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution anknüpfte, tatsächlich aber eine Eigenveröffentlichung war. Den Umschlag ziert ein Hundegesicht, vermutlich eine Dogge oder ein Mops, jedenfalls ein Tier, dem man Atembeschwerden zutraut. Der Inhalt besteht aus Atem- und Rezitationsübungen mit dem Ziel, Stotterern zu einer fehlerfreien Aussprache zu verhelfen. Die Übungen könnten, vom Aufbau und sprachlichen Duktus her, aus einem echten Lehrbuch stammen. Doch von Beginn an schleicht sich Komik ein, wenn etwa der Mund als „Rüssel“ oder die Nasenlöcher als „Löffel“ bezeichnet werden und wenn Kaskaden von „aha“ und „hahahaha“ als Sprechübungen zu absolvieren sind. Am Ende muss der Satz „antiquitätenhändler kurt kalb, wien drei, rennweg zwei, im palais schwarzenberg, erwartet auch meinen geschätzten besuch.“ fehlerfrei artikuliert werden (Steiger 1965, 13).

Worum geht es in diesem Werkchen? Dieter Schwarz vermutete darin eine ideologiekritische Absicht: Steiger habe den „belehrenden Stil volkstümlicher Lehrbücher dazu verwendet, Lehr- und Merksätze durch die Konzentration auf deren Aussprache unschädlich zu machen“. (Schwarz 1988, o. S.) Mag sein! Schwarz berücksichtigt allerdings nicht, dass Steiger hierbei ganz bestimmte „merksätze“ im Auge hatte. Im Eingangsmotto heißt es: „die verbesserung von mitteleuropa wird unter anderem durch wirksame vermittlung von merksätzen bewerkstelligt werden“, in Klammern: „oswald wiener zugeschrieben“ (Steiger 1965, 1). Mit dieser Aussage hing Steiger sich listig an Oswald Wiener und seinen gerade im Entstehen begriffenen Roman die verbesserung von mitteleuropa an, den ein ehrfurchtgebietender Nimbus umgab. Steigers Motive waren also vieldeutiger als von Schwarz vermutet. Hier sei daran erinnert, dass schon die Autoren der „Wiener Gruppe“ das Material für ihre Montagen gern aus alten Lehrbüchern holten. Dies sicher nicht nur aus ideologiekritischen Gründen, sondern weil sie die pädagogische Einfalt und latente Poesie solcher Kompendien gleichermaßen schätzten. Gerhard Rühm übernahm bisweilen auch die für Lehrbücher typischen Handlungsanweisungen und benutzte sie als Muster für eine interaktive Literatur (Rühm 1968 und 1972). Das Gleiche tut Steiger. Ich vermute daher, dass er neben der obligaten sprach- und gesellschaftskritischen Absicht auch am absurden Ritual der Atemschulung seinen Spaß hatte. Sicher hatte er auch Spaß an einem Seitenhieb auf den allseits verehrten Vordenker der „Wiener Gruppe“ und auf die zahllosen Verbesserungs- und Revolutionierungsversuche dieser Dekade.

Übrigens folgte Steiger in seiner Atemschule, bewusst oder unbewusst, den Spuren von Kurt Schwitters. Dessen Memoiren Anna Blumes in Bleie erschien 1964 als Nachdruck in der petersen press, berlin. Auch dieses Büchlein beginnt mit einer Sprachübung, nämlich mit der Aufforderung, das unsinnige Wort „Bleie“ neunhundertmal richtig auszusprechen. Als „leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann“ preist Schwitters sein Werk auf der Titelseite an. Ziel sei die Ausschaltung des „normalen menschenlichen logischen Verstandes“, weil dieser dem Kunstgenuss im Weg stehe (Schwitters 1964, 7 f.).

Dem atemholen ließ Steiger ein Jahr später einen weiteren literarischen Verbesserungsversuch folgen. Er galt der russischen Oktoberrevolution, einem Ereignis, das sich gerade zum 50. Mal jährte und die Herzen auch der linken westlichen Intelligenz höher schlagen ließ. Dass diese Revolution nicht gehalten hatte, was man sich von ihr versprach, übersah man grosszügig. Um so mehr glorifizierte man die edle Absicht der Initiatoren und ihrer Sympathisanten aus der Künstlerschaft. Lenin, Trotzki, Gorkij, Majakowski, Malewitsch, Eisenstein – sie alle kommen auch in Steigers Darstellung vor. Die verbesserte grosse sozialistische Oktoberrevolution erschien in einer bibliophilen Ausgabe im Quartformat mit Xylomontagen von Walter Zimbrich. Der Verleger Rainer Pretzell hatte sich von der Publikation vermutlich ein Geschäft versprochen. Ob die Kalkulation aufging, ist mir nicht bekannt. Die weniger bemittelten Anhänger dieser Art von Literatur mussten auf den Erwerb des teuren Kunstbuches verzichten. Steiger war, soweit ich weiß, mit den Illustrationen unzufrieden und stimmte auch deshalb zwei unbebilderten Nachdrucken zu. Der erste erschien 1970 im Rahmen der Zeitschrift Protokolle, der zweite 1976, in dem von Steiger gegründeten Selbstverlag, dem „Buchdienst Fesch“, in Verbindung mit der Galerie Krinzinger, Salzburg. Die Generallinie des Buches besteht darin, dass Steiger das Großereignis und seine titanischen Akteure auf ein normalmenschliches bis kindliches Maß herabmindert. In 19 kurzen Kapiteln auf 20 Quart-Seiten geht er zur Sache. Die Kapitel haben den Charakter von locker gereihten Bildern oder Schnappschüssen. Sie stehen in keinem inhaltlichen Zusammenhang, deshalb ist es schwer, sie pauschal abzuhandeln. Die Textsammlung beginnt mit einem Tableau vom Zarenhof. Der Herrscher und seine Familie erscheinen wie willenlose Marionetten, die den Einflüsterungen ihrer Umwelt blindlings folgen. Dies wird nicht in realistischer Manier erzählt, sondern in einem magischen Märchenton. Neben dem Märchenton fällt die bewusst kindliche Sichtweise auf. Eine Textprobe vom ersten Kapitel „Wie der Zar zu Mittag war“:

Die Stufen sagten, Steig auf uns drauf!, und Nikolaus stieg zum Eßzimmer hinauf. Als er vor der Tür stand, sagte sie zu ihm: Drück mich und er drückte sie und ging hinein. Die Zariza war schon da und sagte: „Ach, da bist du ja endlich. Wir können anfangen.“ (Steiger 1976 [1])

Der Erzählstil ist in fast jedem Kapitel ein anderer. Das zweite zeigt Rasputin als brutalen Wüstling im Stil des Grobianismus. Das dritte führt uns die Familie Trotzki in Hütteldorf mit den Mitteln der Trivialliteratur vor Augen. Das vierte (über Maxim Gorkij) wirkt so, als hätte ein Expressionist oder Kubist die Szene gestaltet. Das Kapitel über Majakowski lehnt sich an die Vulgarismen und Lautmalereien des russischen Futurismus an, allerdings eines sehr kindlichen Futurismus.

Der Wecker rasselte. Schlirrschlarr. Majakowski wälzte sich im Bett herum: Brz krz. Die Mutter machte die Tür auf: Pitzpatz. Sie brachte Kaffee herein, plom, und stellte ihn auf das Nachtkästchen, Tak. (Steiger 1976 [5])

Der Majakowski nachempfundene Erzählstil färbte auch andere Kapitel ein. Die Vulgarismen und Lautmalereien verweisen darüber hinaus auf die Sprache der Comicstrips.

Was „klein“ war in der großen Revolution, findet bei Steiger besondere Beachtung. Dies gilt weniger für die „kleinen Leute“ als für ihren Nachwuchs. Das entsprechende Kapitel mit der Überschrift „Wie das mit den Kindern war“ ist wohl das einzig ernsthafte Stück Prosa in diesem Buch. Mehr Aufmerksamkeit finden nur noch die Tiere. Ihr Schicksal in den Revolutionswirren schildert das fiktive Tagebuch eines Zoobesuchers, der sich vergeblich bemüht, die unschuldige Kreatur am Leben zu erhalten. Das Kapitel bezieht sich möglicherweise auf einige Zeilen in Majakowskis Poem „Das bewußte Thema“: „War auch tierliebend. / Habt ihr Tiere? / Kann mit ihnen spielen. / Könnte den besten Zoowärter abgeben.“ (Majakowski 1974, 242). Vielleicht gab auch die in der Erstausgabe abgedruckte Bildmontage von Alexander Rodtschenko einen Anstoß. Der häufige Stilwechsel hat offenbar Methode. Man könnte ihn als ein Experiment mit Erzählformen umschreiben, wie es die Autoren der „Wiener Gruppe“ vielfach praktizierten. Beim Vergleich wird aber schnell der Unterschied zwischen den Stilexperimenten Steigers und denen seiner Vorbilder deutlich. Bei Steiger wirken die Stilproben und -wechsel spielerischer und naiver. Die Wahl des jeweiligen Stils scheint aus einem erzählerischen Impuls zu kommen, weniger aus dem Willen zum Sprachexperiment. Die stilistische Vielfalt betont das Fragmentarische der Textsammlung, den Charakter des Sammelsuriums. Wie anders ließe sich die Oktoberrevolution in solcher Kürze in Literatur verwandeln? Steiger entschied sich für eine radikal subjektive, spielerische und humoristische Behandlung des Themas, also für seine inhaltliche Verkleinerung. Die so genannte „offene Form“ war kein Selbstzweck, sondern von der Sache vorgegeben.

Eine blühende Fantasie, ein facettenreicher Humor und eine Leichtigkeit, die dem Leichtsinn nahekommt, zeichnen dieses Erzählwerk aus. Nicht alle Geschichten sind gleich gut gelungen, aber das stört nicht weiter, wenn so dynamisch und unbekümmert fabuliert wird. Bei Rabelais und Swift sucht man schließlich auch nicht nach formaler Perfektion. Kein Wunder, dass Steiger mit dieser Arbeit die Aufmerksamkeit des offiziellen Literaturbetriebs auf sich zog und infolgedessen in die erste Liga des Verlagswesens aufsteigen konnte. Ein solcher Durchmarsch gelang nur wenigen Autoren aus seinem Umkreis. Entscheidend dürfte der Umstand gewesen sein, dass sich ein „experimenteller“ Autor als hochtalentierter Erzähler erwiesen hatte. Die Erzählung galt innerhalb der experimentellen Literatur als veraltetes Formschema. Sie wurde nur als reflexiv aufgebrochenes, antifiktionales, sprachkritisches Gebilde toleriert. Unbefangen und ohne Umschweife zu erzählen, erlaubten sich nur wenige Autoren wie H. C. Artmann. Nachdem er seine innovativen Fähigkeiten und seine Radikalität zur Genüge unter Beweis gestellt hatte, bediente er hin und wieder auch traditionelle Genres, z. B. in seinen Zeitungsfeuilletons Von der Wiener Seite aus den Jahren 1959/60 oder in dem schwedischen Tagebuch das suchen nach dem gestrigen tag von 1964. Auch wenn Steiger aus den gleichen historischen Quellen schöpfte wie die Experimentellen – etwa aus der Unsinnspoesie, dem Dadaismus, dem Futurismus – sind seine frühen Texte leichter konsumierbar als vieles aus der Textschmiede der „Wiener Gruppe“, was wiederum mit der ungenierten Lust am Erzählen zusammenhängt, die auch in komplizierteren Stücken durchscheint. Wunderpost für Co- Piloten mit dem Untertitel „Erzählungen“ erschien 1968 bei Suhrkamp. Von Taschenbuchumfang enthält es auf 91 Seiten 21 Geschichten. Der Titel passt zu einem Kinderbuch: Die „Wunderpost“ lässt an „Kinderpost“ denken und an Alice im Wunderland. Tatsächlich sind viele der Geschichten nicht von dieser Welt. Sie spielen im Kartonagenland, auf dem Grunde des Plattensees oder an Bord einer mit Fesselballons gelifteten und durch die Gegend schaukelnden Bundesrepublik Deutschland. Manchmal bricht das Wunderbare unversehens in eine reale Umgebung ein, etwa in Gestalt von Karl Kraus nach einer Zechtour in der goldenen Stadt. Oder in Gestalt eines Herrn „Semberit“ [sic!], der im „Taucheranzug“ auf die Beerdigung von Horst Hartgummi kommt und dem Michelin-Männchen verteufelt ähnlich sieht. Oft entspringt die Fantastik einem Wort, das den Erzähler zum Träumen und Fabulieren bringt. 1968 wurden in der Bundesrepublik Deutschland die Notstandsgesetze novelliert. Sie heben bekanntlich, im Falle des Notstands, geltende Gesetze auf. Der Begriff „Aufhebung“ inspirierte Steiger zu dem Bild der von Fesselballons gelifteten beiden Deutschlands. Aus dieser Grundidee entwickeln sich vielerlei weitere komische Ereignisse – abgestürzte Maulwürfe, Karambolagen, versenkte Schiffe, Massenflirts italienischer Gastarbeiter mit schwedischen Blondinen und anderes mehr. Am Ende reißen die Seile und Deutschland versinkt in der Ostsee. Die Erzählung „Notstand“, eine der schwächeren, zielte zweifellos auf das aktuelle öffentliche Interesse an diesem Thema, wobei Kritiker wie Befürworter der Notstandsgesetze ihr Fett kriegen. Ins Genre der fantastisch-komischen Erzählung gehören auch die „Gallertartige Träumerei“ (hier wird aus dem Namen „Hartgummi“ ein menschliches Schicksal herausgezogen) und „Famose Zellulose“, eine Reise durch ein Papierwarenlager. Wie schon in der Oktoberrevolution zeigt sich Steiger als einfallsreicher und vielseitiger Erzähler. Stil und Genre wechselt er nach Lust und Laune. Da erwächst eine Geschichte aus einem Buchstabenspiel mit dem Namen „Muhammad Ali“, eine Technik, die man aus dem Kinderreim kennt und die in das Arsenal der Unsinnspoesie gehört. „Das Gleichgewicht von Saugi, den Naturgewalten“ beinhaltet eine kleine Erdgeschichte auf kindlichem Niveau und in kindlicher Sprache. Die Erzählung endet mit der Explosion von „Bumsti“, der Atombombe. „Und Saugi, Lumpi, Spüli, Hindi, Wumsti, Krabbelkrabbel, Aloaohé, Leichti und alle anderen Dummi bewegten sich wellenförmig.“ (Steiger 1968, 24) Das Modell der fantastischen Reise kommt gleich mehrfach vor. Einmal sucht ein erfolgreicher Bankräuber das Weite, der mit dem geraubten Geld um die Welt gondelt und es sich richtig gut gehen lässt. Ein anderes Mal geht der Wiener Kasperl auf Reisen, wie üblich nach Afrika, wo er so abgezockt wird, dass er Handtaschen klauen muss. Den Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, verschlägt es zuerst an den Plattensee. Auf dem Grund des Sees trifft er den Froschkönig und hetzt ihn gegen die Araber auf. Unversehens wird aus dem Plattensee der See Genezareth, den die erbosten Araber aussaufen und damit das Leben Herzls und des Froschkönigs bedrohen. Am Ende erweist sich die haarsträubende Geschichte als Traum – weiß Gott, wo Steiger die Story her hat.

Die „Erzählung aus der Bergwelt“, eine Mordgeschichte und Parodie auf das Genre der Alpensaga, steht für sich, als wollte der Autor zeigen: das kann ich auch. In zwei weiteren Geschichten tritt der Erzähler als Flaneur auf: In „Von Prag nach Heyerdahl“ spaziert er durch die „goldene Stadt“. Er memoriert, was ihn dorthin zieht – die „sagenhaften Gestalten“, die düsteren Gässchen, der Golem, all das, was man aus dem Fremdenführer kennt. Auch bedenkt er, vor historischer Kulisse, die rühmlichen und tragischen Ereignisse der böhmischen Geschichte. Das Ganze ist kräftig mit Ironie gewürzt. Einmal fühlt sich der Erzähler „bedrückt wie Kafka“ (Steiger 1968, 16) oder er kommentiert den davongewehten Hut mit einer Zeile aus der Winterreise. Er fokussiert aber auch die reale Gegenwart, die sozialistische Tristesse der Sechzigerjahre, und mischt seine eigene dazu. Eine Batterie von Schnäpsen hilft ihm schließlich von den Beinen und zu einer eingebildeten Begegnung mit Karl Kraus. Und irgendwie landet er dann auf den Osterinseln. Der andere Spaziergang führt ihn in den „Wiener Prater“, den „Schauplatz verschiedener Verbrechen“, wie es im Titel heißt. Gemeint sind die fiktiven Verbrechen aus der Geisterbahn und die echten aus der Wiener Halbwelt – Prostitution, Randale, Brandstiftung, was sich dort so abspielen kann. Der Prager und Wiener Spaziergang stehen mit beiden Beinen in der Tradition des Feuilletons, eines zu Beginn dieses Jahrhunderts beliebten Genres von Kurzprosa. Den Ausklang bilden acht Tiergeschichten. Auf den ersten Blick wirken sie so simpel und treuherzig wie Kinderlektüre – Tieridyllen, die uns unsere animalischen Verwandten näher bringen sollen. Aus der Nähe erkennt man jedoch, dass die Geschichten weder simpel noch treuherzig sind. Versteckte sexuelle Anspielungen, die Schilderung eines Ekelmilieus im „Spülwurm“ oder ein Zerstörungsszenario zeigen, dass es bei Tieren nicht immer so harmlos zugeht wie in Winnie-the-Pooh. Die merkwürdigste Erzählung schildert das Leben jüdischer Ameisen. Tertium Comparationis ist Liebe zum gedruckten Wort, das die Ameisen zum Fressen gern haben. Am Ende fallen die jüdischen Ameisen einem Pogrom zu Opfer, bei dem sie samt ihrer Lieblingsnahrung verbrennen. Einmal mehr fragt man sich: Wie meint er das? Will er provozieren oder amüsieren? Die Wirkungsabsicht des Autors und die moralische Bewertung des Erzählten bleiben auch hier im Ungewissen.

Wunderpost für Co-Piloten erhielt eine Reihe von lobenden Rezensionen, u. a. in der Zeit und der Süddeutschen Zeitung. Wolfgang Werth, der das Buch in Der Monat ausführlich besprach, meinte, die Texte hätten das scheinbare Manko, „leichtgewichtig“ zu sein und würden deshalb nicht ernst genommen. Werth nahm sie jedoch ernst und lobte an ihnen ganz besonders, dass sie „die Sprache zum Sprechen bringen“ (Werth 1969, 94 f.). Das war zu dieser Zeit, als man sprachlichen Experimenten noch wohlgesonnen war, ein gern benutzter Terminus, von dem auch ich oft Gebrauch machte. Heute halte ich ihn für eine Tautologie.

Ein Jahr später schob Steiger – durch den Erfolg ermutigt oder vom Verlag gedrängt? – ein zweites Bändchen mit Erzählungen nach: Hupen Jolly fahrt Elektroauto / Neue Wunderpost mit 15 Schnappschüssen (Steiger 1969). Der Titel, der sich wieder bewusst kindlich gibt, bezieht sich offenbar auf die Kindheitserinnerung mit dem Titel „Illuminiert“. Diesmal bemühte sich Steiger um einen inhaltlichen Zusammenhang und damit um einen besseren Zusammenhalt des Ganzen. Die inhaltliche Klammer wird schon auf der Umschlagsillustration ersichtlich: Neun kreisrunde Ausschnitte aus dem Wiener Stadtplan, die meisten aus dem dritten Bezirk, zeigen die Schauplätze der Erzählungen. 15 leicht eingedunkelte Schwarzweißfotos zeigen die Stationen in effigie. Es geht also um Spaziergänge in Wien, rund um Steigers Wohnviertel im dritten Wiener Gemeindebezirk.

Den Reigen eröffnet eine historische Fantasie aus dem alten Vindobona. Zwei römische Wachsoldaten treffen sich auf der Landstraßer Hauptstraße, plaudern über das Leben fern der Heimat, pflücken Schwammerln, treiben Schabernack mit einem Dritten. Am Ende erwacht der Erzähler beim Lamplwirt aus einem kurzen Nickerchen und bestellt „ein Seidel Met“ – „Ah – Bier natürlich“. Das Stück steht in der Tradition der gehobenen Feuilletons, etwas witziger und subtiler, eine „Plauderei“, wie man früher sagte. Es folgt die erwähnte Kindheitsfantasie, die den Autor beim Blick auf Bahngleise überfällt. Sie ist so witzig oder unwitzig, wie Kindheitserinnerungen nun einmal auf Außenstehende wirken. Kinder spielen Auto, Flugzeug, Filmstar, Mutter und Kind, Doktor, Indianer. „Das ist ein langweiliges Spiel“, sagt der Erzähler, der sich abrupt in die Szene einmischt und alsbald im nächsten Wirtshaus verschwindet. Der Reiz dieser Geschichte liegt in der Realitätsnähe und im Verzicht auf Pointen. In „Nostalgie am ‚Monte Laa‘“ versteckt sich der Erzähler hinter dem Western- Helden Randolph Scott, dem er seine eigene Wiener Kindheit unterschiebt. Der Laaer Berg im zehnten Bezirk, mit seinen Schrebergärten, den verrottenden Geräten des „Dienstmadel - Praters“, der ärmlichen Ribisl-Wein-Schenke von Ottilie Bedenkovics gehörte seinerzeit zu Steigers Lieblingsplätzen. Die nostalgischen Gefühle, die den Filmschauspieler befallen, sind die des Autors. Das ist alles, aber auch genug, wenn es so empfindsam beschrieben wird. Ganz in der Nähe, am „Flösslerteich“ in Oberlaa, spielt sich eine weitere Episode ab. Sie könnte ebenfalls eine Jugenderinnerung sein, vielleicht auch eine gegenwärtige Impression. Ein junger Mann tritt auf, spricht ein paar Worte mit einem Angler, entkleidet sich umständlich und hechtet in den Teich. Der Rest ist ein zartes Landschafts- und Stimmungsbild mit franziskanischer Note, weil auch die Tierwelt, einschließlich Bienen, Ameisen und Wasserflöhen, liebevoll registriert wird. Die in allen Texten mehr oder weniger anwesende Ironie konzentriert sich hier in einem Bonmot. In vier der Erzählungen präsentiert sich der Autor als versierter Vorstadtcasanova. Auf seinen Gängen durch den dritten Bezirk spricht er jeweils ein Hausmädchen, eine Touristin, eine Prostituierte und eine junge Mutter an. Mit einem Schmäh kriegt er alle rum. Dabei legt er eine eher rüde Art an den Tag: Die unwillige Prostituierte kriegt Prügel; die anhängliche Touristin lässt er am Standtrand stehen. Mit dem willigen Dienstmädchen geht er etwas freundlicher um, und nur die junge Mutter, die seinen Namen kennt, behandelt er wie seinesgleichen. Die sexuellen Eskapaden sind kleine Fluchten aus einem komfortablen häuslichen Milieu, haben aber offenbar keine herausragende Bedeutung. Sie sind dem Erzähler nicht wichtiger als die ideellen Beutezüge durch die vertrauten Straßen, die ihm vielerlei erzählen oder ihn angenehm langweilen. Dort schaut er in verstaubte Schaufensterauslagen, in erleuchtete Wohnungsfenster, lauscht den Gesprächen von Passanten und landet fast immer im Gasthaus. Die ehemaligen bzw. damaligen Wohnsitze von berühmten Kulturschaffenden lässt er nicht aus – das Wittgenstein- und das Stifterhaus, die Gütersloh-Adresse. Über die genannten Personen verliert er aber kein weiteres Wort, so wenig wie über seinen eigenen Beruf. Er offenbart sich nur als Spaziergänger mit den erwähnten Liebhabereien. Zu ihnen gehören in erster Linie alte Hollywoodfilme, die er auf seinen Spaziergängen gern memoriert und aus denen er sich fiktive Begleiter oder Doppelgänger wählt. Manchmal befällt ihn auf der Straße und in den Beisln ein Gefühl der Befremdung. Eine Wirtstochter bringt ihn mit ihren Reizen in Verlegenheit, ein andermal provoziert er selbst die Wirtsleute durch Macho- Gehabe. In der merkwürdigsten Geschichte befremdet ihn die Begegnung mit einer alten Frau und einem Blinden derart, dass ihm im Wirtshaus die Sinne schwinden. Auf einer Bahre kommt er wieder zu sich, festgeschnallt. „Steinhof, Steinhof, mach’s Türl auf …!“ heißt der Titel und suggeriert, dass der Spaziergänger in die bekannte Wiener Irrenanstalt eingeliefert wurde – oder davon träumte. Die letzte Geschichte fällt aus dem vorgegebenen Rahmen. Sie schildert den friedlichen Lebensabend von Adolf Hitler und Eva Braun in Peru. Die beiden sind ihren Überzeugungen treu geblieben. Auf einer Hazienda in den Anden, einem neuen „Berghof“, leben sie nach alter Gewohnheit und tun niemand was zuleide. Ich finde diese Erzählung ganz amüsant, halte sie aber eher für schwach und weiß auch nicht, was sie in diesem Buch zu suchen hat – außer als Füllmasse.

Der Stil der neuen Erzählungen ist durchgehend der gleiche: Ein nüchterner, ungekünstelter Plauderton, nahe an der Alltagssprache, in der wörtlichen Rede mit Wiener Dialekt durchsetzt. Hin und wieder blitzt Ironie auf, etwa in Form eines staubtrockenen Kommentars. Sie gibt dem Erzähler etwas Verschmitztes und provoziert beim Leser ein Schmunzeln. Man könnte auch von einem absichtlich klein gehaltenen Stil sprechen, der sich allerdings nicht beim Leser anbiedert und nichts Volkstümliches an sich hat. Hupen Jolly fand in der Presse weniger Beachtung als die Wunderpost. Man hatte, verführt durch den Untertitel, wohl eine Fortsetzung und Steigerung der Wunderpost erwartet – nach Alice im Wunderland sozusagen Alice hinter den Spiegeln. Jörg Drews urteilte in der Süddeutschen Zeitung: „Weder purzeln die Einfälle so vergnüglich uninhibiert, noch bieten die Erzählungen so viele stilistische Nuancen.“ Drews sah in den Wiener Geschichten eine „poetische Reste- und Ruinenverwertung [der] abgeblätterten k.u.k. Glanz- und Gloria-Tünche“, „nur in der Imagination ein bißchen farbig“ gemacht. „Es wär’ halt sonst gar zu melancholisch.“ (Drews 1969) Tatsächlich hatte Steiger in den neuen Erzählungen etwas ganz Anderes versucht als in der Wunderpost, insofern erwies er sich (oder war’s der Verlag) mit dem Untertitel Neue Wunderpost einen Bärendienst. Steigers Vorbilder waren diesmal die Flaneure und Feuilletonisten des frühen 20. Jahrhunderts. Ein bisschen orientierte er sich wohl auch an H. C. Artmanns Geschichten Von der Wiener Seite. Artmanns dralle Milieuschilderungen waren allerdings nicht seine Sache. Das war vielmehr er selbst und ein Teil seines Alltags, mit diskreten Auslassungen und fantasierten Highlights. Mit den neuen Erzählungen war Steiger sich und seiner Realität näher auf den Leib gerückt. Wie authentisch die einzelnen Erlebnisse sind, ob sie sich tatsächlich zugetragen haben oder erfunden wurden, entzieht sich meiner Kenntnis, ist aber auch an dieser Stelle nicht so wichtig.

Abgesehen von der fehlenden Thematisierung des Schreibens gleicht Steigers thematisches Spektrum dem der Alltagsgeschichten von Robert Walser. Werner Morlang beschrieb es so: „Spaziergänge und Wanderungen, Kneipenbesuche […], zufällige Begegnungen auf der Straße“, „unversehens evozierte Kindheitserinnerungen“ (Morlang 1990, 517). In allen Erzählungen Walsers fänden sich biografische Bezüge. Walser hatte die kleine Form nicht ganz freiwillig gewählt. Die Veröffentlichung von Kurzprosa in den Feuilletons der Tageszeitungen brachte schnelles und, im Vergleich zu den Buchtantiemen, auch gutes Geld. Obwohl sie Pflichtübungen waren, identifizierte Walser sich voll mit seinen Kurzprosastücken. „Für mich“, schrieb er, „sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.“ (Morlang 1990, 516)

Als Teil eines zerschnittenen Ich-Buchs verstehe ich auch die Texte in Hupen Jolly fahrt Elektroauto. Steigers Einwand, er habe Walsers Prosa zu diesem Zeitpunkt nur flüchtig gekannt, setze ich gern hierher. Die geistige Verwandtschaft mit dem Schweizer Kleinprosavirtuosen ist jedoch meines Erachtens evident. In der Folgezeit wandte sich Steiger vom Genre der kleinen Erzählung ab und kehrte dem kommerziellen Literaturbetrieb den Rücken. An dem „Ich-Buch“ hat er meines Erachtens jedoch weitergeschrieben, wenn auch in nochmals verkleinerter und stärker verklausulierter Form. Er ist, wie Rolf Michaelis von Robert Walser sagte, ein „großer Gerneklein“ geblieben.

Zur Frage, warum er einen Kult mit der Kleinheit betreibt, hat Steiger sich selbst nicht geäußert. Sicher hängt diese Vorliebe in erster Linie mit seiner Persönlichkeit und Biografie zusammen. Nach solchen Zusammenhängen zu forschen, galt bei den Vertretern der experimentellen Literatur als ungehörig. Die Dichtung sollte für sich sprechen, sollte ausschließlich als Ausführung eines ästhetischen Kalküls gewertet werden. Es wäre aber zu bedenken, ob diese scheinbar so unpersönliche Art zu schreiben nicht auch in subjektiven Gegebenheiten wurzelt, wozu die zeitgeschichtlichen Umstände ihrer Entstehung gehören. Steigers (und meine) Generation, die den Krieg als Kind erlebte, hat über diese Erfahrung in der Regel geschwiegen ebenso wie zu dem später erworbenen, verstörenden Wissen über den Holocaust. In den späten Sechzigerjahren explodierte dieses Wissen in Gewaltsamkeiten. Heute frage ich mich, ob die experimentelle Literatur nicht auch ein (unbewusster) Reflex auf die erwähnten geschichtlichen Katastrophen war – die Flucht in eine unbelastete Sprache und Literatur oder, wie in Steigers Fall, in das Zeitalter der Unschuld.

„Small is beautiful“, der Titel meines Beitrags, stammt von einem Buch des englischen Wirtschaftstheoretikers Ernst Friedrich Schumacher. Der Autor plädiert darin für ein alternatives ökonomisches Denken und für die „Rückkehr zum menschlichen Maß“ (Schumacher 1973). „Small is beautiful“ wurde alsbald zum Slogan. Man benutzte ihn als Keule gegen jede Art von materieller Größe – gegen Großmächte, Großunternehmen, Großstädte, Großschriftsteller, gegen jede Art von Mengen- und Machtkonzentration. Das Buch erschien allerdings erst 1973 (auf Deutsch 1977), also erst nach der Entstehung von Dominik Steigers Frühwerk, sodass er für diese Denkrichtung, wenn man denn einen Zusammenhang herstellen will, so etwas wie eine Vorreiterrolle einnimmt.

Literatur:

Drews 1969 = Jörg Drews: „G’schlamperte G’schichten“. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 220, 12./13.9.1969

Deleuze und Guattari 1976 = Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka – Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kröber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, st 807

Freud 1958 = Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Frankfurt a. M.: Fischer 1958, Fischer Bücherei Bd. 193

Jolles 1956 = André Jolles: Einfache Formen. 2. Aufl., Halle (Saale): Niemeyer 1956

Kafka 1973 = Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1973, Bd.1346

Majakowski 1974 = Wladimir Majakowski: „Gut und schön. Ein Oktober-Poem“. Zit. n. Werke in 2 Bänden. Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974

Morlang 1990 = Werner Morlang: „Nachwort“. In: Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1990, st 1548, Bd. 2

Rühm 1968 = Gerhard Rühm: rhythmus r. Berlin: Rainer-Verlag 1968

Rühm 1972 = Gerhard Rühm: MANN UND FRAU. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1972

Schmatz 1993 = Ferdinand Schmatz: Zu Dominik Steigers Arbeit der Aufhebung oder Das Gesamtkunstwerk kann nicht nur eines sein und niemals ganz. Unpaginierter DIN A2 Faltbogen. Wien: Buchdienst Fesch 1993

Schumacher 1973 = Ernst Friedrich Schuhmacher: Small is beautiful. A Study of Economics as if People Mattered. London: Blond&Briggs 1973

Schuller und Schmidt 2003 = Marianne Schuller und Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: Transcript Verlag 2003

Schwarz = Dieter Schwarz: „Dominik Steiger, ,Nebenkommissar des Lebens‘“. In: Acht Acht. Ausstellungskatalog der Galerie Heike Curtze. Düsseldorf 1988

Schwitters 1964 = Kurt Schwitters: Memoiren Anna Blumes in Bleie. Berlin: Faksimiledruck im verlag petersen press 1964

Steiger 1965 = Dominik Steiger: im atemholen sind zweierlei gnaden. Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur 1965

Steiger 1968 = Dominik Steiger: Wunderpost für Co-Piloten. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968

Steiger 1969 = Dominik Steiger: Hupen Jolly fahrt Elektroauto. Neue Wunderpost mit 15 Schnappschüssen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969

Steiger 1970 = Dominik Steiger: Vierundachtzig Österreichische Erzähler. Frankfurt a. M.: März 1970

Steiger 1976 = Dominik Steiger: Die verbesserte grosse sozialistische Oktoberrevolution. Unpag. Nachdruck der Erstausgabe von 1967. Wien, Innsbruck: Buchdienst Fesch in Verbindung mit Galerie Krinzinger 1976

Weibel und Export 1970 = Peter Weibel und Valie Export: wien: bildkompendium wiener aktionismus und film. Frankfurt a. M.: kohlkunstverlag 1970

Werth 1969 = Wolfgang Werth: „Schnürsenkel und Spaghetti“. In: Der Monat, 21. Jg., H. 246, (1969), S. 94–98

erstveröffentlicht in: Kosmöschen Steiger, Hg: Thomas Eder, 2014. Ritter Verlag, Klagenfurt und Graz