NERVENKRITIK

Als Buchdienst Fesch gibt Dominik Steiger 1976 vierteljährlich die Zeitschrift NERVENKRITIK heraus: auf je etwa 20 Seiten sind Bild- und Textbeiträge befreundeter Künstler (und je ein Text der beiden schon verstorbenen, von allen Beteiligten geschätzten Autoren Robert Walser und Konrad Bayer) versammelt.
Der Umschlag der 250 Stück-Auflage zeigt jeweils eine vergrößerte Knöchelchen-Zeichnung des Herausgebers; die „Berliner Extraausgaben“ sind aufwändiger, handschriftlich mit Bleistift, Tusche und Aquarell gestaltet.                                              

(a.d.s.)

 (...) in der von Steiger herausgegebenen Zeitschrift NERVENKRITIK (1976–77) wird die(se) Problematik der Piktogramme zu Ende geführt. Denn langsam wandelt sich die Ikonographie. Die Schriftzeichnungen werden zu Bildschriften (picture-writing), vergleichbar den Zeichnungen von Indianern oder von Miró oder den Totem Lessons (1945) von Jackson Pollock. Die Hieroglyphen werden figurativer. Desgleichen verwendet nun Steiger seine deformierte Euphonik-Sprache, um auf Schallplatten (verständliche) Wienerlieder aufzunehmen. In der Publikation Mein fortdeutsch-heimdeutscher Radau (Tragelaph’s I. Part) (1978) strömt diese figurative Tendenzwende sowohl in Schrift und Sprache zusammen. Desgleichen im konzeptuellen Gemeinschaftswerk von Steiger und Günter Brus, Jeden jeden Mittwoch. Ein Zwoman (1977). So wie nämlich die Bild-Schriften wieder figurativ werden, so wird auch die Sprache wieder gegenstandsbezogen. Das Wort nimmt wieder Bedeutung an, das Zeichen Gestalt. Steiger wird zum sensiblen Zeichner, der die verschiedensten Register ziehen kann, von reinen Ideogrammen bis zu aquarellistischen Szenen. Auf der Suche nach einem von der Zucht der rationalen Hierarchie abgedrängten unendlichen Reichtum der Formen umgrenzt sein zeichnerisches Werk aufgrund seiner abstrakten Erfahrungen ein organisches Reich, wo ein Blatt, ein Insekt, ein Körper eine Morphologie unendlicher Transmutationen anbieten, also ohne dieses Reich zu begrenzen. Nachdem er sich in den Abgrund jener Kräfte gebeugt hat, welche die Zivilisation im Menschen unterdrückt, fängt sein visionäres Netz phantastische Worte und Wesen ein, welche einer Vermischung von Tier-, Pflanzen-, Mineralien- und Menschenreich entstammen (...)

Textauszug aus: Peter Weibel: Der freie Fluss der Laute und Zeichen. Zu Dominik Steigers biometrischen Texten und wilden Zeichnungen, erstveröffentlicht in: Parnass, Heft 5, Jg. 2, September/Oktober 1982, S. 67–69; zitiert nach: Katalog zur Ausstellung DOMINIK STEIGER RETROSPEKTIVE, Kunsthalle Krems, 2014, Hrsg. Hans-Peter Wipplinger, Konzept Suse Längle und Hans-Peter Wipplinger,  Verlag d. Buchhandlung Walter König, S. 63