a picture is a voiceless poem

Spielarten der Zeichnung im Werk Dominik Steigers

Hans-Peter Wipplinger 

Literatur, Musik, performative Aktion, Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Collage, Fotografie und Objektkunst: Dominik Steiger lässt sich weder in ein mediales noch in ein stilistisches Korsett zwängen. Zu vielgestaltig waren seine Interessen, zu rhizomatisch seine künstlerischen Unternehmungen. Seiner Haltung als enzyklopädisch agierender Künstler mit Mehrfachbegabung entsprach der Vorsatz, dem geistigen Experiment eine zentrale Stellung einzuräumen und damit dem Charakter des Entwurfes gegenüber der Formvollendung im herkömmlichen Verständnis den Vorrang zu geben. Mit der Ablehnung von Stilgläubigkeit ging die Negation vermeintlicher Professionalität im Sinn handwerklicher Perfektion einher. Steiger, der ungeniert in der Tradition der Dadaisten und Surrealisten agierende Autodidakt, zelebrierte bewusst das Prinzip des Dilettantismus und der unvorbelasteten Aneignung von Techniken und formalen Verfahrensweisen, um den gewählten Materialien und Medien im Prozess des Versuches ein ungeahntes Potenzial zu entlocken. In den folgenden Überlegungen soll der grafischen Präsenz der Zeichnung und ihrer zahlreich erprobten Spielarten im Werk Dominik Steigers Aufmerksamkeit gewidmet und auf wahlverwandte Impulsgeber wie Joseph Beuys (1921–1986) und Dieter Roth (1930–1998) eingegangen werden, die sein zeichnerisches Werk maßgeblich inspirierten.

Letterlacks, 1973. Tusche auf Papier, 29,7 x 21 cm

VON DER DICHTUNG ZUR ZEICHNUNG

Am Anfang des künstlerischen Werdeganges steht bei Dominik Steiger das geschriebene Wort. Nach seinen ersten literarischen Erfolgen Mitte der 1960er Jahre1 reflektiert er zunehmend auch die Strukturen beziehungsweise das Material von Dichtung selbst. Sätze, Wörter und Buchstaben, alle Bestandteile poetischer Produktion, werden einer radikalen Dekonstruktion unterworfen, Syntax und Semantik auf ihre Substanz hin untersucht und aus ihrem Erstarrungszustand befreit. Der derart fragmentierte Bedeutungsträger wird in seiner visuellen Erscheinungsform zum Gestaltungselement und damit in die bildende Kunst überführt. Die Metamorphose von der Dichtung zur Zeichnung, der Weg von der Schriftlinie zur Bildlinie war also kein weiter. An der Grenze des Mitteilbaren stehen nach Steigers eigener Deutung seine sogenannten Biometrischen Texte2 aus den Jahren 1972 und 1973, die in sogenannte  Knöchelchen-Zeichnungen übergehen und seine ersten Bilder darstellen. Dabei handelt es sich um komplexe, fein strukturierte, miniaturhafte Zeichenhybride von hohem abstraktem Bildwert. Als Schrift im rationalen Sinn nicht dechiffrierbar erscheinen sie dem Betrachter nur mehr als undeutbare Zeichen, wie fremd anmutende Hieroglyphen von grafischer Schönheit, denen quasi kein Mitteilungscharakter zukommt und die so zu einer Sinnfindung und Erkenntnis jenseits bekannter Kategorien anregen.3 Gerade darin ist das Denksystem Steigers in seiner umfassenden Weise nachzuvollziehen, und zwar dergestalt, dass seine Werke die dem Rätselhaften, Ungewissen und Geheimnisvollen inhärente Kraft der Imagination beschwören.

Knöchelchen-Zeichnung aus dem Skizzenheft September 73 / für Traudl / Dominik. Acht Blätter, jeweils einseitig mit Tusche bezeichnet, 29,5 x 20,7 cm

IMPULSGEBER JOSEPH BEUYS UND DIETER ROTH

Dominik Steigers Teilnahme an Aktionen im erweiterten Umfeld der Wiener Gruppe und der Wiener Aktionisten blieb naturgemäß nicht ohne Einfluss auf seine Werkentwicklung, wie Peter Weibel in seinem Katalogbeitrag ausführt. Ein wesentlicher Impuls für Steigers bildkünstlerisches und nicht zuletzt zeichnerisches Werk ergab sich auch durch ein Zusammentreffen mit Joseph Beuys 1971 in Wien, zu einem Zeitpunkt, zu dem Steiger, wie er selbst sagte, „recht orientierungslos war [und] etwas zu eng in meinen Vorstellungen, und Beuys hat mir geholfen, das aufzubrechen. [...] Nach der Begegnung mit ihm habe ich wieder Tritt gefasst und meine Möglichkeiten gefunden. Allerdings nicht in der Schriftstellerei, sondern im Zeichnen. Ich habe das Zeichnen dann sehr rasch zu einer Beschäftigung entwickelt, die mir sehr viel bedeutet hat.“4 Neben ihrem gemeinsamen Interesse an Naturmystik und Pantheismus, Philosophie, Alchemie und mythologischen Welten verband die Künstler – den begnadeten Rhetoriker Beuys und den talentierten Dichter Steiger – ein fein gestimmtes Sprachgefühl. Zugleich waren sie sich bewusst, dass Sprache ein nur unzureichendes Medium ist, um gewisse Phänomene auszudrücken, für die wiederum die Zeichnung als eine erweiterte, „eine andere Form der Sprache“5 , als „Denk-Form“ bzw. „Verlängerung des Gedankens“6 prädestiniert ist.

Ephemer und schwebend, unabgeschlossen und deutungsoffen sind nicht nur die Blätter von Beuys, sondern auch jene Steigers, oftmals poetisch und als „geistiger Lift“ gedacht die Titel. Erscheinungen aus der Natur vermeint man in Steigers Formen und Spuren zu entdecken, urtümliche, rudimentäre Physiognomien und biomorphe Gebilde. Nervenund adernartige Zuckungen können als Spuren innerer Erregtheit gelesen werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Werk peintre paintree (Abb. 1/7), das sowohl den Maler als auch den Schmerzensbaum aufruft, oder das Blatt TRIEBSCHICK (Abb. 2/7). Beide Titel vereinigen nicht nur die Antagonismen Natur und Kunst, Geist und Materie, Eros und Thanatos in sich. Auch die Virtuosität und die Begeisterung des Wortkünstlers Steiger für Sprachspiele und Wortschöpfungen werden hier offensichtlich. 
Doch mehr noch als das motivische Vokabular ihrer zeichnerischen Werke eint Beuys und Steiger der Einsatz spezifischer, auch poverer Materialien, wie zum Beispiel die Verwendung vorgefundener, bereits gebrauchter oder beschriebener Papiere und Dokumente als Bildträger: von liniertem Schreibpapier über Makulatur bis hin zu Küchenkrepp, den Steiger für seine sogenannten Gebrauchsgrafiken (Abb. 3/7) benutzte. Auch Schiefertafeln kamen bei beiden zum Einsatz; bei Steiger etwa im Rahmen seines künstlerischen Beitrages anlässlich der Gründungsveranstaltung Der Grazer Autorenversammlung 1973 (Abb. 5/7) oder bei der Videografie AUTRE CHIEN aus dem Jahr 1989 (6+7/7).

Nicht zuletzt diente beiden Künstlern die Zeichnung als privates und äußerst intimes Aufzeichnungsmedium. Dies gilt vor allem für jene Lebensabschnitte, in denen sie sich zurückzogen und auf sich besannen, sowie für Phasen persönlicher, von beiden erlebter seelischer Krisen, in denen die Zeichnung als „regelrechte[r] Erneuerungsvorgang“7 fungierte. Mit dem Universalkünstler Dieter Roth, den Steiger 1966 in Wien kennenlernte und mit dem sich ab den frühen 1970er Jahren ein intensiver Austausch entwickelte, verband Steiger nicht nur ein Agieren zwischen den künstlerischen Disziplinen, vor allem zwischen Sprache und Bildwelt. Der Einfluss Roths, der die Befreiung von formalen Konventionen postulierte und Zufall, Zerstörung und Vergänglichkeit einen zentralen Stellenwert als gestalterischen Mitteln beimaß, zeigt sich vor allem auch in Steigers zunehmendem Mut zum Experiment – Missgeschicke miteingeschlossen. Ein das Blatt dominierender blauer Tuscheklecks aus dem Jahr 2003 (Abb. 1/2) oder Rollbilder wie etwa kl. Frau (2004, 2/2) erscheinen vor dem Hintergrund der folgenden Anekdote wie eine Reminiszenz an den Freund und Mentor: „Da erinnere ich, dass der Dieter mal so freundlich war und mich gebeten hat, ihm ein paar Zeichnungen der letzten Zeit zu zeigen, bei einem Besuch bei uns zu Hause. Und da war ich etwas nervös und aufgeregt und habe dann etwas gefummelt. Und da standen drei Rotweingläser, und meines habe ich dann in der Aufregung umgestoßen, und der Rotwein rann über eine Zeichnung von mir. Und ich habe wahrscheinlich ‚Ouih!‘ gesagt. Und der Dieter sagte: ‚Ja sei doch froh!‘ Es war vielleicht nicht so viel, aber es war doch ein bedeutender Fleck.“8

Inspiration waren Steiger auch Roths Stempelzeichnungen (Abb. 3/7) oder der so leicht wie bestimmt gesetzte Strich in dessen Schnell- und Freihandzeichnungen (Abb. 4/7). Der rund 300 Blätter umfassende und Dieter Roth gewidmete Zeichnungszyklus WARS DENEN? (Abb. 1+2/7) aus dem Jahr 1975 nimmt direkten Bezug auf das von Roth im Jahr zuvor veröffentlichte Buch Dars Wähnen ( Tränenmeer 3). Deutet der Roth’sche Titel klanglich „weinen“ wie inhaltlich „Wahn“ an, so scheint sich Steigers Titelei auf sein dargestelltes Figurenpersonal zu beziehen, das sich jeglicher Klassifizierung verweigert. Weder weiß man, woher seine Protagonisten kommen, noch, was sie antreibt. Auch seine ergänzenden handschriftlichen Texte eröffnen kein Referenzsystem; sie bieten weder Orientierung noch Halt. „Jeder Satz ist eine Tarnkappe“9, wusste Roth. Der Untertitel Satzkäppchen unter dem sich ein Buch verbirgt zeigt Steigers Einverständnis. Auch seine Sprach- und Bildwelten sind verrätselt, seine zeichenhaften Mischwesen im Dazwischen verhaftet. Die Linie definiert, die Kontur umschreibt, doch dies nur vermeintlich. Die Grenzlinie zwischen Innen und Außen bleibt vage und setzt einen spielerischen Dialog zwischen Linie und Fläche in Gang, den Gottfried Boehm als „ikonische Differenz, aus Figur und Feld“10 bezeichnen würde. Ein Verfahren, das sich in Steigers ähnlich umfangreichem Unikat DIETER ROTH ’S TRÄNENMEER 4b, nach vor empfunden gegriffen 1975/76 (Abb.6+7/7) fortsetzt.

EXPERIMENTIERFELD ZEICHNUNG

Entsprangen die piktogrammartigen Knöchelchen-Zeichnungen der frühen 1970er Jahre einer „Zergliederungsphase“, wie Steiger die Zeit seiner literarischen Neuorientierung nannte, so sind seine zeichnerischen, zumeist konkreten Aquarelle Ausdruck einer „Zeit der Zusammensetzung“11. Anfänglich als Illustrationen seiner nun folgenden Veröffentlichungen wie Mein fortdeutsch-heimdeutscher Radau. (Tragelaph’s I. Part) (1978) und Amateurprobleme der Lebensüberlegung (Tragelaph’s 2. Parater) (1980) auftauchend, in denen Steiger persönliche Erlebnisse seiner Legionszeit und frühen Jahre als wandernder Poet reflektiert, emanzipieren sich die aquarellierten Federzeichnungen zunehmend von ihrer Relation zur Textebene – auch wenn nach wie vor autobiografische Bezüge präsent sind, wie der Titel eines 1977 entstandenen Werkes belegt: Kron-Kommissar des Lebens weiter leuchte Du dem Leben von und für verworstenes Herz (Abb. 2/2). Groteske, mitunter unheimlich und bedrohlich wirkende Figuren wie aus der Comédie humaine von Honoré de Balzac (1799–1850) bevölkern die Szenerien ebenso wie Mensch- Tier-Wesen, die einer Traumsequenz oder surrealen Welten zu entstammen scheinen. Steiger zeigt sein Personal in diesen Blättern eitel, demütig, bösartig, elegant oder auch als tumbe Wesen – das Kolorit gedeckt, die Ausmalung spärlich. Hier zeichnet der ernste Komödiant, ironische Spötter und Fatalist Steiger ein gesellschaftskritisches Bild von den Abgründen und Bösartigkeiten, aber auch des Brüchigen und Fragilen der menschlichen Existenz.

Eine zunehmende Hinwendung zur Figuration belegt neben der Serie der „Kommissar-Sujets“ (siehe Galerie oben) auch der ab 1978 folgende Werkzyklus der „kleinen Aquarelle“. Mit feinster spitzer Feder zeichnet Steiger in diesen Miniaturen eigenwillige, manchmal märchenhaftskurril wirkende Geschöpfe, die an Arbeiten der Zeichner Grandville (1803–1847), Rodolphe Toepffer (1799–1846), Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877–1954)12 oder an das gegenständlich geprägte Frühwerk von Wols alias Wolfgang Schulze (1913–1951)13 erinnern. Eine Ansammlung verschiedener wuchernder Elemente, wunderhafter Figuren und Tiere, phantastischer Architekturen und Landschaften schiebt sich in großer Verdichtung ineinander, sodass es schwerfällt, einen konkreten Inhalt zu lesen. Wie gefangen in einem Gerüst von enger Linienführung werden Szenarien aufgezeigt, deren Details durch die Bewegtheit des Striches und das winzige Darstellungsformat nur mehr schwerlich erkennbar sind. Die Mikrokosmen erinnern an Psychogramme beziehungsweise an Zustandsaufnahmen innerer Bewegtheit. Bildtitel wie wütende Attacke auf Wehrfried (Abb. 2/2) oder autodidaktisches Suizidmaterial sind hierfür beredte Beispiele. Kompositionen wie diesen ist ein heftiges rhythmisches Fließen der Linienführung immanent, das zwischen einem unkontrollierten, obsessiven Zeichenprozess und dem bewussten Aufrechterhalten von Inszenierung ringt. Der Kontrast zwischen energetischem Zentrum und der umgebenden Leere der weißen Blattfläche verstärkt den Eindruck von Konzentration und Isolation. Doch gibt es auch die lichten und heiteren Szenerien, die arkadisch anmuten und für Steiger „Quellen ungetrübter Erfrischung“14 darstellten.

Bei den sogenannten Exzerptmarterln aus dem Jahr 1980 (Abb. 1/3) ist das Blatt Papier zugleich Zeichengrund und Schreibfläche. Abermals wird evident, dass Steiger nicht nur ein zeichnender Schreiber, sondern auch ein lesender Zeichner war. In fast manischer Manier transkribierte oder exzerpierte er Gelesenes, trug aus unterschiedlichen Wissensgebieten Informationssplitter zusammen, die durch ihre akribische und genaue Übertragung Ordnung und Logik suggerieren. Doch statt ein Erfassen der einzelnen abgezeichneten und aufgeschriebenen Phänomene zu ermöglichen, entziehen sich die Informationen dem studierenden Blick des Betrachters. Statt Reflexion und Wissenstransfer erzeugen Steigers von visuellen Überlagerungen verunklarte Erklärungsmodelle ein einziges Rauschen. Die Schrift als semantischer Bedeutungsträger schlägt um und lässt den Text inhaltlich zwischen einem Gerade-Noch und einem Nicht-Mehr oszillierend zurück. Mag auch hier und dort ein Gedanke aufblitzen oder ein Tier seinen Blick aus dem Dickicht heben, so scheinen die Rezeption distinkter Zeichen und die Erkenntnis von Sinnzusammenhängen allein dem Autor vorbehalten. Jedem anderen geraten Steigers Exzerpte zur Marter – oder zum sinnfreien Vergnügen jenseits einer eindeutigen Lesart. Konversationsgrafiken nennt er eine in den 1990er Jahren entstandene Serie von collagierten Zeichnungen (Abb. 2+3/3), die das Prinzip der Exzerptmarterln aufnehmen, jedoch ohne schriftsprachliche Anregungen zur dialogischen Auseinandersetzung auffordern.

Ohne Titel, aus der Serie Autographe Bene, 1987. Vor- und Rückseite. U. a. unter Verwendung von Autografen des Kaisers Franz Joseph I. (1830–1916) und des Außenministers Johann Bernhard Graf von Rechberg (1806–1899). Collage, Tusche auf Papier, 21,5 x 27,2 cm

Nicht nur seine eigene Handschrift nutzt Steiger als bildgestalterisches Mittel, auch die Schönheit fremder Schriftzüge ist ihm Inspiration. Im Fall von Autographe Bene, so der Titel einer Reihe zeichnerisch überarbeiteter Autografen, gilt Steigers Augenmerk nicht zuletzt der Signatur. Für den Kulturwissenschaftler Thomas Macho (*1952) haben Unterschriften „eine ikonische Qualität: ein ,Schriftbild‘, das nicht nur Rechtsverbindlichkeiten stiftet, sondern auch als die Spur eines Individuums, als Zeichen eines Charakters, gelesen werden kann“.15 In Form filigraner Einschreibungen und grafologischer Spurensetzungen zwischen Abstraktion und Konkretion begegnete Steiger den Vorlagen mit einem autonomen Formenspiel. Sensibel und nicht ohne Witz reagiert er auf die Aufzeichnungen oftmals prominenter Protagonisten der Geschichte, wie etwa von König Ludwig XV. (1710–1774) oder Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916). Steiger macht sich mit seinen Überzeichnungen in gewisser Weise auch zum Mitautor. Dergestalt betreibt er eine vermeintlich respektlose Auflösung der vorhandenen Textordnung und des Erzählverlaufes, wie er überhaupt durch seine grafischen Gesten, die Linienzeichnungen und ihre Disposition auf dem Papier eine neue Ordnung setzt, die veränderte Konnotationen und Relationen hervorruft. Beeinflusste der Schriftverkehr von Königen und Kaisern oft den Lauf der Geschichte, so wirkt Steigers Stempel, den er in behördlicher Manier – und nicht ohne Selbstbewusstsein – auf die künstlerisch manipulierten Dokumente setzt, wie das nachträgliche Ausrufezeichen eines ironischen Demiurgen.

Liberia, Neger-Republik, aus der Serie Markenbilder, 1986. Mischtechnik auf historischem Briefmarkenalbumblatt, 29,5 x 23,2 cm

Auch die Verwendung von Blättern aus alten Briefmarkenalben in der Serie Markenbilder  bezeugt Steigers Interesse am historischen Dokument als motivstiftendem Bedeutungsträger. Schon der bildanthropologische Kulturhistoriker Aby Warburg (1866–1929) hat im Rahmen seiner zahlreichen interdisziplinären Forschungsansätze neben Meisterwerken der Kunst unter anderem Artefakten des Alltags wie Briefmarken als Schöpfungen „symbolischer Gestaltung“16 seine Aufmerksamkeit gewidmet. Bereits 1913 wollte Warburg eine Kulturgeschichte der Briefmarke als Träger des sozialen Gedächtnisses und Beispiel für die Selbstdarstellungsmethoden von Staaten schreiben, wozu der chronisch Überarbeitete allerdings nicht kam. Die Zeichnung Steigers auf dem Briefmarkenalbumblatt Liberia (Abb. oben) etwa wirkt – Zufall oder Absicht – wie eine Visualisierung der Warburg’schen These vom Nymphen-Motiv mit „bewegtem Beiwerk“ ihrer im Wind wehenden Haare und des Gewandes. Mag sein, dass Steiger in seinen Briefmarkenbögen auch die berühmte Säerin, die sogenannte „Semeuse“, die ab 1903 als Briefmarke in Frankreich fungierte, erblickte und ihr ein zeichnerisches Denkmal setzte. Schon Warburg sammelte 1928 „Bildmaterialien zur ikonologischen Filiation der Semeuse“17, um die Gegenwärtigkeit antiker Pathosformeln mit einem weiteren Beispiel zu belegen.

TAGTRAUMARBEITEN

Vielen Zeichnungen Steigers ist eine spezielle Art der Verbindung von Intuition, Improvisation und gesteuerter Absicht eigen. In seinen grafischen Konglomeraten werden jedoch im Sinn der surrealistischen „écriture automatique“ Bretons (1896–1966) nur beschränkt innere, unbewusste Bilder als Gedankenbewegung nachvollziehbar gemacht. Hier steht Steiger Jean Cocteau (1889–1963) näher, der die Sprache der Surrealisten ablehnte, weil er ihnen vorwarf, dass sie sich „zu bewusst […] hinterrücks in den Traum einschleichen, ich [Cocteau] hingegen schlafe mit offenen Augen und versuche, mich hinterrücks in die Realität einzuschleichen.“18 Steiger, Gründer der Tagtraumarbeiterpartei, der sein Atelier gerne auch als Tagtraumarbeiterlokal bezeichnete, scheint sich ebenso bewusst zu sein, dass Bild und Sprache in ihrer Ausschließlichkeit weder der Wirklichkeit noch der Imagination allein entspringen, sondern eine Synthese beider Sphären bilden.

Optische Eindrücke und deren kognitive Verarbeitung werden beim Zeichenvorgang immer nur unzulänglich wiedergegeben. Jacques Derrida (1930–2004) führt in seinem Werk Aufzeichnungen eines Blinden (1997)19 aus, dass Gesehenes und Reflektiertes während der Zeichensetzung selbst bereits erinnert oder antizipiert werden. Er bezeichnet dieses Faktum als „retrait“ und meint damit den „transzendentalen Entzug“ zwischen innerer Vorstellung und deren Materialisierung im Akt des Zeichnens. In manchen seiner wie automatische Kritzeleien wirkenden Arbeiten praktiziert Steiger eine Form des Zeichnens, die sich gänzlich von der Verpflichtung freigemacht hat, eine repräsentative Wirkung zu erzielen, wenngleich sich bei der Anschauung Figurationen herausschälen können. Als Beispiele sollen hier die Arbeiten aus den Jahren 2006 bis 2009 (Abb. 2+3/3) angeführt werden, in denen sich nervöse, fast kalligrafisch anmutende Kritzelspuren mit verschiedenartigen Lineamenten und sphärischem Farbdunst vermischen. Bewusstes und Unbewusstes werden gleichzeitig ins Bild gesetzt und bleiben dennoch unbestimmt. Gerade darin liegt nach Gottfried Boehm (*1942) das Potenzial des Mediums der Zeichnung: „Im Anfänglichen der Zeichnung manifestiert sich eine authentische Weise der Welterzeugung.“20 Derartige Ergebnisse entsprechen nur mehr zeichnerischen Gesten, die Roland Barthes (1915–1980) als „écriture“21 bezeichnete. Diese zeichnerische Praxis widerspricht der klassischen Theorie des „disegno“, da es sich nicht mehr um die Umsetzung eines mentalen Bildes auf das Papier handelt. Denn im keineswegs auf eine finale Komposition ausgerichteten freien Spiel entsteht im „transzendentalen Entzug“ des Zeichnens erst die Erfindung.

Vielleicht kann man die Methode des Zeichnens bei Dominik Steiger am besten mit einer Analogie beschreiben und auf Heinrich von Kleists (1777–1811) Erkenntnis verweisen, dass sich Ideen beim Reden einstellen, wie dieser in seinem Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06) schreibt. Auch Steiger generiert seine Ideen letztlich im Prozess des Zeichnens. Seine nachträglich vergebenen Titel sind ein Versuch, das überraschende Ergebnis zu deuten und damit einen Sinnzusammenhang nachzuliefern, wie etwa bei den an der Grenze zur Sichtbarkeit verharrenden Werken fliegt und geneigt (Abb. 1+2/3), in dem flüchtige und zarte Linien etwas Fragmentarisches vermitteln. Immer wieder zeitigt das zeichnerische Werk Steigers überraschende Hakenschläge und Stilkontraste, die nicht schlüssig in einen herkömmlichen Werkentwicklungsverlauf einfügbar scheinen. Seien es nun Linien voller Kontrolliertheit oder skizzenhafte Striche, die auf fast unbewusste Arbeitsspuren hinweisen und bei denen die Tinte ein Eigenleben führt, oder spontane, fleckenhafte Formspielereien, wie es bei den frühen Schuhpastabildern (Abb. 3/3) der Fall ist. Die gesamte hier angesprochene Bandbreite heterogener Qualitäten finden wir exzeptionell in dem aus 78 Blättern bestehenden Werkzyklus HOMMEDELETTRE / HOMMEDÉLIRE aus dem Jahr 1990 (Abb. unten), der mit dem Untertitel Faksimile eines schizoiden Skizzenbuchs als sogenanntes Blätterbuch publiziert wurde. Darin untersucht Steiger, den formalästhetischen Methoden von Victor Hugo (1802–1885) und Wols nicht unähnlich, die primären Bildelemente wie Fläche, Linie, Spur, Punkt und Klecks auf ihre gestalterischen Möglichkeiten. Es entstehen variationsreiche Markierungen, die einen differenten, manchmal ausbalanciert ruhenden, dann wieder bewegten Rhythmus aufweisen. Sind die ersten Blätter noch dem Primat der Linie verpflichtet und stärker an Gegenständlichkeit und Narration gebunden, so gewinnt zunehmend das abstrakt Expressive und formlos Klecksografische an Bedeutung. Letzteres erinnert an die Blot-Methode des englischen Künstlers Alexander Cozens (1717–1786), welcher im 18. Jahrhundert den Vorschlag lancierte, man möge bei einer Zeichnung nicht mit der wohlüberlegten Linie, sondern mit einem absichtsvollen Fleck beginnen. Statt für die Projektion innerer Bilder auf den Malgrund plädierte Cozens dafür, grafische Repräsentationen erst durch die assoziative Umwandlung von Tuscheklecksen („blots“) und Farbspritzern entstehen zu lassen. An Cozens’ derart entwickelte Landschaftsbilder lässt eine Zeichnung aus Steigers Blätterbuch denken: to the super world / conception of the relation of the world, so der Begleittext zu dem Zufallsgestöber aus schwarzer Tusche, welches Urnebel vor dem geistigen Auge des Betrachters aufsteigen lässt. Von fast „mystischer Ärmlichkeit“ spricht Jean-François Lyotard (1924–1998) in Bezug auf die Zeichnung und meint damit die der Gattung eigene Gleichzeitigkeit von materieller Genügsamkeit und Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten. Unmittelbar, spontan und uranfänglich in ihrem Ausdruck sei die Zeichnung allen Künsten vorgeordnet, so der französische Philosoph. Auch wenn der intermedial agierende und vielseitig begabte Künstler Dominik Steiger sich nicht vornehmlich als Zeichner verstand, so kommt der Zeichnung auch in seinem Werk ein bedeutender Stellenwert zu – nicht zuletzt um die Zwischenräume von Schrift, Bild und Zeichen zu erkunden und darin eigene Welten zu errichten.

Seite (Blatt Nr. 52) aus dem Unikat HOMMEDELETTRE / HOMMEDÉLIRE, 1990. Tusche, Aquarell auf Papier, Skizzenbuch 22,3 x 14,3 x 1,1 cm

Kapitelüberschrift nach einer Zeichnung von Dominik Steiger aus dem Unikat HOMMEDELETTRE / HOMMEDÉLIRE, 1990. Skizzenbuch, Blatt Nr. 7.

1 Vgl. den Beitrag von Thomas Eder in diesem Katalog, S. 16.

2 Vgl. den Beitrag von Peter Weibel in diesem Katalog, S. 60 ff.

3 Vgl. die Werke von Max Ernst Lettre pour Unica Zürn und Brief an Ertel, in: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden (Hg.), Schrift und Bild, Ausst.-Kat. Stedelijk Museum Amsterdam / Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Typos Verlag, Frankfurt/M. 1963, Abb. S. 59, 60.

4 Dominik Steiger in einer ORF-Diskussionsrunde zum 15. Todestag von Joseph Beuys, mit Ute Meta Bauer, Boris Groys, Christoph Schlingensief, Andrea Schurian und Dominik Steiger, gesendet im Rahmen einer Kunststücke-Spezialausgabe, ORF/Kultur, Wien, 5. April 2001.

5 Joseph Beuys in einem Gespräch mit Amine Haase, in: Amine Haase (Hg.), Gespräche mit Künstlern, Wienand, Köln 1981, S. 30.

6 Joseph Beuys, zitiert nach: Christel Raussmüller-Sauer (Hg.), Joseph Beuys und das Kapital, Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen 1988, S. 79.

7 Joseph Beuys, zitiert nach: Götz Adriani, Winfried Konnertz, Karin Thomas, Joseph Beuys, Neuaufl., DuMont, Köln 1994 (1. Aufl. 1974), S. 40.

8 Dominik Steiger in der Gesprächsrunde Geht das so? im Rahmen der Tagung der Dieter- Roth-Akademie und der Ausstellung Dieter Roth – Souvenirs in der Staatsgalerie Stuttgart / Kunstmuseum Stuttgart, 15. November 2009.

9 Dieter Roth, zitiert nach: Stefan Ripplinger, Dieter Roths Tränenwerk, in: Edizioni Periferia, Flurina, Gianni Paravicini-Tönz (Hg.), Dieter Roth, Tränen in Luzern / Tears in Lucerne, Edizioni Periferia, Luzern/Poschiavo 2010, S. 24.

10 Gottfried Boehm, Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Friedrich Teja Bach, Wolfram Pichler (Hg.), Öffnungen: Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, Wilhelm Fink Verlag, München 2009, S. 46.

11 Dominik Steiger, ÜBER MEINE KNÖCHELCHEN-ZEICHNUNGEN, in: Otto Breicha (Hg.), Protokolle ’82/3. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Bd. 3, Jg. 1982, Jugend und Volk, Wien/München 1982, S. 221.

12 Die zahlreichen Titelgebungen Dominik Steigers, die das Wort „Kommissar“ beinhalten, mögen eine Referenz auf Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Buch Der Kommandant von Kalymnos sein. 13 Wols und Steiger verbinden nicht nur ihre ausgeprägte Sensibilität und ihr antiakademischer Sinn für Materialexperimente, sondern auch der Aspekt, dass sie beide zwar von der Realität ausgingen, aber als wandelnde Tagträumer ihre Kunst schufen.

14 Dominik Steiger, Über meine kleinen Aquarelle, in: ÜBER MEINE KNÖCHELCHEN-ZEICHNUNGEN, in: Otto Breicha (Hg.), Protokolle ’82/3. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Bd. 3, Jg. 1982, Jugend und Volk, Wien/München 1982, S. 222.

15 Thomas Macho, Handschrift – Schriftbild. Anmerkungen zu einer Geschichte der Unterschrift, in: Toni Bernhard, Gert Gröning (Hg.), Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Beiheft 1 (Hand – Schrift – Bild), Akademie Verlag, Berlin 2005, S. 117.

16 Aby Warburg, zitiert nach: Karen Michels, Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Bd. VII, Akademie Verlag, Berlin 2001, S. 62.

17 Ebd., S. 269.

18 Jean Cocteau, zitiert nach: Jochen Poetter (Hg.), Jean Cocteau. Gemälde, Zeichnungen, Keramik, Tapisserien, Literatur, Theater, Film, Ballett, DuMont, Köln 1989, S. 12.

19 Siehe Michael Wetzel (Hg.), Jacques Derrida. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, Wilhelm Fink Verlag, München 1997, S. 46.

 20 Gottfried Boehm, wie Anm. 10, S. 59.

 21 Siehe Roland Barthes, Cy Twombly, übers. v. Walter Seitter, Merve Verlag, Berlin 1983.

 

Artikel erschienen in: Katalog zur Ausstellung DOMINIK STEIGER RETROSPEKTIVE, Kunsthalle Krems, 2014, Hrsg. Hans-Peter Wipplinger, Konzept Suse Längle und Hans-Peter Wipplinger, 2014, Verlag d. Buchhandlung Walter König, S. 76 - 93